New Work – Ist laterale Führung eine Antwort auf Verantwortlichkeit?

Eines der beliebtesten New-Work-Konzepte ist derzeit der Ansatz der lateralen Führung. Laterale Führung passt gut in einen breiteren Kontext, der auf dem Weltwirtschaftsforum 2021 verkündet wurde: Wir sind in eine Phase des Stakeholder-Kapitalismus eingetreten und müssen systemisch denken und lateral führen, um globale Probleme zu lösen. Und wir müssen über Verantwortlichkeit im Sinne von Rechenschaftspflicht (Accountability) sprechen, damit Ergebnisse zählen. Die deutsche Sprache fasst Verantwortung und Rechenschaftspflicht üblicherweise in dem Begriff „Verantwortung“ zusammen und schafft dadurch häufig Unklarheit. Das deutsche Wort Rechenschaftspflicht erfasst aber nur einen Teil des englischen Worts „accountability“, das neben der juristischen Dimension auch ein ethisch-moralische Dimension umfasst und damit auch eine Haltung und Verhalten meint. Die Befürworter eines lateralen Führungsansatzes übergehen jedoch häufig die Frage der Accountability. Wir wollen uns deshalb genauer ansehen, wie sich volle Verantwortlichkeit (accountability) für Entscheidungen auswirkt und wie Accountability bei einem lateralen Führungsansatz verbessert werden kann.

Was ist laterale Führung?

Laterale Führung bedeutet, dass Menschen eigenverantwortlich, selbständig und „accountable“ arbeiten, unabhängig von ihrer Rolle oder ihrem Platz in der Hierarchie eines Unternehmens. Sie ersetzt das Top-Down-Managementmodell durch einen kooperativen Arbeitsprozess, bei dem die Mitarbeiter:innen persönliche Verantwortung für ihren Beitrag zur Erreichung der Unternehmensziele übernehmen und mit ihren Kolleg:innen zusammenarbeiten, um dies zu erreichen. Einige Organisationen streben sogar an, das hierarchische Führungsmodell vollständig zu ersetzen. „Accountability“ ist in diesem Ansatz verteilt über das Team.

Laterale Führung ist eine Herausforderung für Führungskräfte. Sie erfordert von ihnen eher die Rolle eines Coaches oder Mentors als die eines/einer „klassischen“ Vorgesetzten. Sie müssen gute Verhandlungsführer:innen sein, die ihr Team motivieren und gleichzeitig Konflikte moderieren sowie Gespräche und Ergebnisfortschritt steuern können. Glücklicherweise lassen sich die erforderlichen Kompetenzen wie Empathie, soziale Kompetenz und Verhandlungsgeschick im Zuge des Übergangs von einem hierarchischen zu einem lateralen Führungsansatz erlernen.

Führung und Rechenschaftspflicht (Accountability)

Wir können jedoch nicht über Führung sprechen, ohne Verantwortung und Accountability zu diskutieren, die unabhängig von Organisationsstrukturen ein Thema sind. Accountability wird oft als Synonym für „Schuld“ angesehen und als etwas, das um jeden Preis vermieden werden sollte. Niemand möchte für Fehler verantwortlich sein und die Schuld auf sich nehmen. Im traditionellen, vertikalen Führungsmodell gibt es in der Regel transparente Prozesse, in der auch Accountability festgelegt ist. Zum Beispiel regelmäßige Besprechungen mit den Vorgesetzten, jährliche Leistungsbeurteilungen, die oft mit einem Punktesystem verbunden sind, um die effektivsten Mitarbeiter:innen zu belohnen. Diese Systeme haben große Nachteile, wie Ron Carucci in einem aufschlussreichen Beitrag erläutert. Wenn nur 14 % der Mitarbeiter das Gefühl haben, dass ihre Leistung so gewürdigt und bewertet wird, dass es sie motiviert, und 69 % der Meinung sind, dass sie ihr Potenzial bei der Arbeit nicht voll ausschöpfen, dann stimmt mit den gängigen Leistungsbewertungssystemen eindeutig etwas nicht.

Ein lateraler Führungsansatz ermöglicht idealerweise hohe Transparenz: Probleme werden offen diskutiert und nicht versteckt, Kollegen:innen arbeiten selbst gesteuert zusammen, um Probleme zu lösen, und bitten sich gegenseitig um Hilfe. Wenn Mitarbeiter:innen eng mit ihren Kollegen zusammenarbeiten, entwickeln sie ein gemeinsames Gefühl der Verantwortlichkeit und Accountability. Leider verwandelt sich gemeinsame Accountability oft in keine Accountability, weil am Ende doch nicht klar ist, wer schlussendlich für Entscheidungen einsteht.

Wenn der Ansatz der lateralen Führung erfolgreich sein soll, muss er über einen kooperativen Arbeitsprozess hinausgehen. Es geht nicht darum, dass Führungskräfte ihr Team sanftmütig und vorsichtig fragen, ob es nichts dagegen hätte, eine bestimmte Aufgabe zu übernehmen, oder „nett, zurückhaltend oder sogar untätig“ sein sollten, wie Christian Sauer erklärt. Es geht vielmehr darum, dass die Führungskraft bereit und in der Lage sein muss, die Bemühungen des Teams auf bestimmte Themen und Aufgaben zu fokussieren. Sie muss bereit sein, auch unbequemes Feedback zu geben, Annahmen in Frage zu stellen, das Team mit Leidenschaft für das Projekt zu begeistern und Ergebnisse zu erzielen. Und sie müssen dies ohne den „hierarchischen Hammer im Hintergrund“ tun.

Ohne Governance und klare Strukturen keine Accountability

Ein lateraler Führungsansatz kann einem Unternehmen zwar immense Vorteile bringen – wie eine verbesserte Risiko- und Compliance-Kultur, eine bessere Innovationskultur und bessere Geschäftsergebnisse -, aber nur mit klaren Führungsstrukturen. Es braucht nach wie vor jemanden, der/die die endgültige Entscheidung trifft und damit voll accountable ist. Und wenn es sein muss auch die Schuld auf sich nimmt. Demokratisierung von Accountability geht nur bis zu einem gewissen Grad. Wir leben jedoch in einer Gesellschaft, in der es aus der Mode gekommen zu sein scheint, in der Verantwortung zu stehen und accountable zu sein. Selbst unter Liebhabern der dezentralen Selbstorganisation, wie z. B. Blockchain-Enthusiasten und Mitgliedern von DAOs (dezentralen autonomen Organisationen), kann sich der Versuch, die Entscheidungsfindung zu „demokratisieren“, wie ein harter Kampf anfühlen—der auch misslingt.

In einem oft komplexen Umfeld Entscheidungen zu treffen und zu ihnen zu stehen, scheint für viele schwieriger zu sein, als sich aus dem Entscheidungsprozess ganz herauszuhalten und damit Accountability ganz zu entgehen. Dies ist eine gefährliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass Daten zeigen, dass die Effektivität von Entscheidungen und finanziellen Unternehmensergebnisse zu 95 % und mehr korrelieren.

Die Unternehmenslenker müssen klare Governance-Strukturen schaffen und ihren Führungskräften und Mitarbeitern beibringen, Entscheidungen zu treffen, zu ihnen zu stehen und sie umzusetzen.

Wie man Accountability sicherstellt

Beide Führungsansätze, der vertikale und der laterale, haben ihren Wert, wenn Entscheidungsbefugnis und Accountability klar sind. Führungskräfte müssen verstehen, welcher Führungsansatz für welchen Grad an Komplexität und in welcher Situation angemessen ist. In einer Krise beispielsweise wäre ein Coachingansatz, laterale Führung und langwierige Diskussionen unangebracht. Klarheit und Schnelligkeit sind dann am Platz.

Damit beide Führungsansätze funktionieren, muss die organisationale Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und auszuführen, nicht nur strukturell im Sinne einer guten Governance aufgesetzt sondern auch die Fähigkeiten von Führungskräften und Mitarbeiter:innen hierfür entwickelt werden.

Erstens müssen Führungskräfte und Mitarbeiter:innen in Schlüsselpositionen in der Lage sein, den Grad der (systemischen) Komplexität zu verstehen, in dem sie agieren, und zu erkennen, welche Art der Entscheidungsfindung und des Handelns einer bestimmten Situation angemessen ist.

Zweitens müssen Personen für Führungs- und andere Schlüsselpositionen sorgfältig ausgewählt werden, um sowohl ihre Bereitschaft als auch ihre Fähigkeit zu bestimmen, Entscheidungen zu treffen, sie auszuführen und letztlich die Verantwortung zu übernehmen und accountable zu sein.

Wir unterstützen Unternehmen in allen drei Bereichen, indem wir der Geschäftsleitung und den Vorständen helfen, geeignete Governance-Strukturen einzurichten, den Entscheidungsfindungsprozess von Führungsteams in komplexen Umgebungen zu verbessern und Talente in der gesamten Organisation mit einer speziellen Capability Analytics-Suite von Bioss zu identifizieren.

Quellen:

https://hbr.org/2020/11/how-to-actually-encourage-employee-accountability

https://t3n.de/news/laterale-fuehrung-kollegial-statt-hierarchie-1454592/

http://www.agileinnovation.eu/wordpress/whos-to-blame-if-it-all-goes-wrong-accountability-in-agile-organisations/

https://www.thelastingdifference.com/lateral-leadership/

https://medium.com/graph-commons/accountability-in-decentralized-networks-the-molochdao-case-c28a0b3dd942

https://www.bioss.com/

 

Diskutieren Sie mit!
Hinterlassen Sie uns einen Kommentar.
Das könnte Sie auch interessieren
13
Mai
Unsere DEI MVPs - die Maßnahmen, die die positivsten Ergebnisse erzielen für Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration
9
Sep
Ohne Digitalität keine digitale Transformation
5
Okt
Zukunft der Arbeit - Die Macht von Netzwerken